„Hinter den Grenzen des Erträglichen“

Auszug aus dem ersten Kapitel

Als nach einer bereits länger schwelenden politische Krise am 28. Juli 1914 Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, war Daniel Grünberg, mit seinen neunundzwanzig Lebensjahren, der jüngste ‚Doktor der Chemie‘ mosaischen Glaubens in Preußen. Es war keine sieben Monate her, da hatte er bei Professor Doktor Emanuel Lieberknecht, an der Universität Berlin, im Fachbereich ‚Organische Chemie‘ promoviert. Inzwischen war er seit vier Monaten mit Miriam, der achtundzwanzigjährigen Tochter des jüdischen Unternehmers Amon Liebermann, verlobt.

Die sehr selbstbewusste junge Frau hatte an der Sorbonne in Paris Sprachen studiert und erst vor sechs Wochen ihre Graduierung zum ‚Doktor philosophiae‘ erhalten. Nach ihrer Rückkehr aus Paris, verhandelte sie Verträge mit den ausländischen Geschäftspartnern ihres Vaters und betreute seine Lieferanten und Kunden. Zusätzlich erledigte die gesamte fremdsprachige Korrespondenz von ‚Liebermanns Warenhaus‘, dem zweitgrößten Kaufhaus in Breslau, dessen alleiniger Eigentümer ihr Vater Amon war. Nur das Konkurrenzunternehmen von Artur und Georg Barasch, am Großen Ring, war größer. Amon nannte die beiden immer nur ‚die BaBrüs‘, als Kurzform für die Barasch Brüder.

Kam man während einer Unterhaltung darauf zu sprechen, pflegte er stets abzuwiegeln: „Nun ja, das stimmt schon, ein bisschen größer sind die BaBrüs. Es muss allerdings bedacht werden, dass sie zu zweit agieren. Andererseits wird erzählt, dass es zwischen den beiden immer wieder zu kleineren und größeren Kompetenz-Reibereien kommt. Außerdem sind sie doch sehr stark von ihren Geldgebern abhängig. Sowas ist niemals gut fürs Geschäft. Dagegen bin ich alleiniger Eigentümer von ‚Liebermanns Warenhaus‘. Ich allein entscheide, trage allerdings auch die gesamte Verantwortung allein. Den BaBrüs könnte ihre siebenköpfige Eigentümergruppe jederzeit den Geldhahn zudrehen. Das kann bei mir nur der Ewige tun.“ Er lachte vergnügt. Das pflegte er an dieser Stelle immer zu tun und es folgte sein finaler Schluss: „Nun ja, die beiden Herren haben zwei Jahre vor mir eröffnet. Der Ewige wird schon seine Gründe gehabt haben, als er das zuließ.“ Das signalisierte jedem Gesprächspartner deutlich, dass er das Thema zu wechseln wünschte.

Trotz der bereits etablierten Konkurrenz entwickelte sich Amons Geschäft in nur wenigen Jahren zu einem der modernsten und größten Warenhäuser Breslaus. Zudem stand es in exponierter Lage und war aufgrund der luxuriösen Innenausstattung eines der beliebtesten Geschäftshäuser der Innenstadt. Zudem hatte er vor einigen Monaten, mit seinem Freund Wilhelm, den er aus dem Breslauer Automobilklub kannte, die ‚Schlesische Baumwoll- und Textilfabrik‘ gegründet. Wilhelm Tschauder war zwar Christ und auch ein paar Jahre jünger als er selbst, doch er aus irgendeinem unerklärlichen Grund vertraute er diesem Mann. So hatte er ihm vor Jahren denn auch die gesamte Planung und Bauaufsicht bei der Errichtung seines Warenhauses übertragen.

***

Vor einem halben Jahr lernten sich Daniel und Miriam, in Amons Warenhaus am Blücher Platz, zufällig kennen. Daniel war auf der Suche nach einem modernen Licht-Mikroskop, mit einer physikalisch maximal möglichen Auflösung, dass er für seine Forschungsarbeiten dringend benötigte. Von einem Kollegen hörte er, dass es ‚bei Liebermanns‘ eine exzellent sortierte Abteilung mit fotografischen- und optischen Geräten gab. So kam es, dass er an diesem Montagmittag zwischen Regalen mit den neuesten Mikroskop-Modellen und beeindruckenden Ausstellungsstücken umherzuirren schien.

Miriam war gerade mit einigen Unterlagen auf dem Weg in ihr Büro, als ihr der gutaussehende Mann auffiel. Offensichtlich suchte er in der Abteilung für optische Geräte irgendetwas, wirkte dabei aber einigermaßen hilflos. ‚Das ist doch mal wirklich ein gutaussehender Junge‘, dachte sie, während sie ihn interessiert beobachtete. Sie übergab die Unterlagen einer zufällig vorbeikommenden Verkäuferin mit der Anweisung, diese in ihr Büro zu bringen und schlenderte dann langsam in Daniels Richtung. ‚Vermutlich denkt er, dass ich zum Verkaufspersonal gehöre‘, vermutete sie. ‚Nun gut, soll er das ruhig denken. Verkäuferinnen sind schließlich auch Menschen.‘ Lächelnd sprach sie ihn an: „Kann ich dem Herrn irgendwie behilflich sein?“

Es traf Daniel wie der sprichwörtliche Blitz: In einem einzigen Augenblick hatte es ihn erwischt. Alles in ihm schien zu schreien: ‚Das ist sie! Das ist die Frau deines Lebens! Sie wird die Mutter deiner Kinder! Nun mach schon irgendwas!‘ Er war wie erstarrt. Es schien so, als ob es die ‚Liebe auf den ersten Blick‘ tatsächlich gab. Doch wie könnte er das Herz dieser Frau erobern? Er durfte auf jeden Fall nichts tun, was dieses wunderschöne Wesen dazu bringen könnte, sich umzudrehen und fortzugehen. Er suchte in seinem Kopf verzweifelt nach einem passenden Gedanken – irgendetwas womit er sie beeindrucken könnte, ohne dass sie sich ungebührlich bedrängt fühlen musste. ‚Was, wenn sie schon einen Freund hat oder sogar verheiratet ist?‘ schoss es ihm durch den Kopf. ‚Nein, nein – sie trägt keinen Ehering. Reiß dich zusammen, Daniel‘, dachte er. ‚Du bist 29 Jahre alt und promovierter Akademiker. Dieses wunderbare Wesen vor dir, ist nichts anderes als ein weiblicher Mensch – eine Frau eben. Wo ist also dein Problem, Daniel?‘, versuchte er sich zu beruhigen.

Er hatte sich in seinem Leben, bis zu diesem Augenblick, an die alte jüdische Tradition gehalten, nach der unverheiratete Männer möglichst jeder Versuchung durch das weibliche Geschlecht aus dem Weg gehen sollten. Das war nicht immer einfach, denn er hatte fast täglich, bei der Arbeit oder auf Gesellschaften, mit äußerst attraktiven Damen zu tun, die ihm gelegentlich sogar ziemlich eindeutige Angebote machten. Er war immer standhaft geblieben. Nun ja – außer damals bei Klara. ‚JHWH wird in seiner Güte berücksichtigen, dass ich noch ein Junge war und diese Schickse mir keinerlei Chance gelassen hat‘, versuchte er das erotische Erlebnis, bei dem er als Sechzehnjähriger seine Unschuld verlor, zu relativieren.

***

Damals hatte ihn Klara, die drei Jahre ältere Tochter eines Studienfreundes seines Vaters, während eines Gartenfestes verführt. Im abgelegenen Bootsschuppen des Gastgebers, drückte sie ihn unvermittelt mit ihren üppigen Brüsten an die Innenwand der Hütte. Niemals hätte er gedacht, dass Mädchen zu so etwas imstande wären. Er brachte kein Wort heraus und versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sollte er sich nun gegen diesen Angriff zur Wehr setzen? Bis vor wenigen Momenten hätte er diese Frage mit einem klaren ‚Ja‘ beantwortet. Im Augenblick war er sich da allerdings nicht mehr sicher. Die gegen ihn gedrückten Brüste fühlten sich überraschenderweise gar nicht unangenehm an. Eigentlich fand er es aufregend und schön, dieses unerwartete und unbekannte Gefühl. Den Atem eines Mädchens so dicht vor seinem Gesicht zu spüren, war seltsamerweise auch weder unangenehm noch ekelig. Er entschloss sich abzuwarten, was als nächstes passieren würde. Abhauen konnte er schließlich jederzeit – dachte er.

Die Konturen seines steifen Geschlechtsteils zeichneten sich Augenblicke später deutlich unter der Hose ab, und er befürchtete schon, dass sein ‚Vili‘ platzen könnte. Als Klara plötzlich ihre Hand darauflegte, war es dann passiert – er ejakulierte, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. ‚Was für ein Schlamassel‘, dachte er. Nach der Thora galt er jetzt als unrein, doch momentan erschien ihm das völlig nebensächlich. Er würde es später mit dem Allmächtigen regeln und alle in solchen Fällen vorgeschriebenen Waschungen vornehmen. ‚Jetzt nur nicht bewegen‘, dachte er unter dem wunderbaren Druck des weiblichen Körpers und besonders ihrer Hand da unten.

Das Mädchen spürte die krampfartigen Zuckungen unter dem Stoff seiner Hose, was ihre eigene Erregung deutlich verstärkte. Sie fühlte, dass ihre Scheide feucht wurde, griff in seine Hose und massierte sein langsam erschlaffendes Glied, dass sich augenblicklich wieder steif und fest aufrichtete. Dann zog sie plötzlich ihre Hand zurück und trat einen Schritt nach hinten. Daniels Augen folgten jeder ihrer Bewegungen, als sie aufreizend langsam begann, sich ihrer sommerlichen Bekleidung zu entledigen. Mit großen Augen und offenem Mund meinte er, zu träumen. Klara war gar kein Mädchen – Klara war eine Frau und Klara stand völlig nackt vor ihm.

„Findest du mich schön?“, hatte sie ihn gefragt, während er mit offener Hose und erigiertem Glied auf ihre wohlgeformten Brüste starrte. „Du darfst sie ruhig mal anfassen. Los, mach schon.“

Oh ja, er fand sie schön! ‚Du darfst sie anfassen‘ hatte sie gerade gesagt, doch er stand da wie gelähmt, zu keiner kontrollierten Bewegung fähig. Widerstandslos ließ er zu, dass sie seine Hände ergriff und zu diesen wunderbaren, weichen Titten, mit den dunkelrot hervorstehenden, harten Brustwarzen führte…

***

„Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“ Miriams dezentes Hüsteln holte ihn in die Gegenwart zurück. Er bemerkte, dass er offensichtlich die ganze Zeit auf ihren wohlgeformten Busen gestarrt hatte. Erschreckt schaute er ihr ins Gesicht und sein konfuser Blick verfing sich im Bruchteil einer Sekunde in der unendlich scheinenden Tiefe ihrer strahlenden blau-grünen Augen. Er kannte dieses Gefühl. Es war wie bei der nackten Klara damals – nur dass die Frau vor ihm züchtig bekleidet war. Vergeblich bemühte er sich, seine Gefühlswallungen unter Kontrolle zu bringen.

‚Was für ein süßer Bursche. Ich habe ihn offensichtlich ein wenig verwirrt‘, dachte sie und lächelte ihn charmant an. Sie würde diesen gutaussehenden Mann aus seiner unübersehbar peinlichen Situation befreien, an der sie nicht ganz unbeteiligt war. „Ich meine – wie gefällt Ihnen die luxuriöse Ausstattung, die Sie sehen? Schauen Sie nur, wie sich die braunen Glas- und Keramikelemente mit den schwungvollen Konturen zu den Aufgängen in die oberen Etagen verbinden. Sind diese schwungvollen Konturen nicht außergewöhnlich ästhetisch? Beinahe wie in Sanssouci. Genau das richtige für einen Herrn Ihres Formats, oder irre ich mich?“ Nun sollte er doch wohl erkennen, dass sie keine einfache Verkäuferin war.

„Nein! – Ja! – Unglaublich ästhetisch! Ihre schwungvollen Konturen sind wirklich umwerfend. Also ich meine Sie – also die Konturen – die von den Keramikaufgängen natürlich. Beeindruckend. Wirklich umwerfend Ihre Ausstattung. Also ich meine jetzt nicht Sie persönlich, sondern die Ausstattung des Geschäfts“, stotterte er völlig aus der Fassung gebracht, während sie ihn die ganze Zeit anlächelte.

‚Ich quatsche hier, als ob ich beschickert bin‘, fuhr es ihm durch den Kopf. ‚Du darfst ihr nicht nochmal auf ihren Busen starren‘ hämmerte er sich ein. ‚Keinen Blick mehr auf alles, was sich unterhalb ihres hübschen Kinns befindet‘. Plötzlich hörte er sich sagen: „Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie mich nachher bei einem kleinen Spaziergang begleiten würden. Ich versichere Ihnen, dass ich…“

„Gern! Dann können wir unsere Unterhaltung über Konturen fortsetzen“, antwortete sie mit kokettem Augenaufschlag. „Seien Sie um dreiviertel sechs am Lieferanteneingang, hinten auf dem Hof. Ich freue mich.“

***

Wie die meisten Deutschen hatte auch Daniel den Kriegseintritt des Deutschen Reichs am 1. August mit einer Mischung aus Sorge und Begeisterung erlebt. Der Schulterschluss mit Österreich-Ungarn gegen das russische Zarenreich wurde inzwischen von den wichtigsten jüdischen Institutionen des Reiches und der jüdischen Bevölkerung gestützt.

‚Der Verein der deutschen Juden‘ und ‚Der Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ schworen ihre Mitglieder bereits seit Tagen auf den Krieg ein. Die aktuelle Ausgabe der ‚Jüdischen Volkszeitung‘ titelte auf Seite eins in großen Lettern:

An die deutschen Juden!

In schicksalsernster Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen.
Dass jeder deutsche Jude
zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist,
die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich.

Glaubensgenossen!

Wir fordern Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterlande zu widmen!
Eilet freiwillig zu den Fahnen!

Dieser Aufruf verfehlte seine Wirkung unter der jüdischen Bevölkerung nicht. Die Hoffnung, endlich als vollwertiger und gleichberechtigter Deutscher akzeptiert zu werden, war damals Grund genug, dass sich rund zehntausend jüdische Freiwillige zur Verteidigung ihrer Heimat meldeten. Auch Daniel hegte die Hoffnung, durch Pflichterfüllung und Opferbereitschaft seine Vaterlandsliebe unter Beweis stellen zu können.

Der 3. August war ein sonniger Montag. Seit zwei Tagen stand das Deutsche Reich an der Seite Österreich-Ungarns gegen Serbien. Man erzählte sich, dass der Kaiser am Vormittag den Franzosen den Krieg erklärt hätte.

Als Daniel dann vor wenigen Minuten, in der Musterungsstelle auf dem Hof der Kaserne in der Werderstraße, seine freiwillige Dienstverpflichtung unterschrieb, fühlte er sich als Jude – irgendwie – in die Einheit der deutschen Nation integriert. Es fühlte sich gut und richtig an. Da er aus der Schicht der sozial gehobenen Bildungs- und Besitzbürgerfamilien kam und bereits einen akademischen Grad verliehen bekommen hatte, spielte sein mosaischer Glaube bei der Einstellung als Offizier scheinbar keine Rolle.

„Für einen Doktor der Chemie hat der Kaiser in seinem Heer immer Verwendung“, hatte der Hauptmann in der Musterungsstube gesagt. Als Daniel dann seine Unterschrift geleistet hatte, begrüßte Ihn der Mann mit militärischem Gruß:

„Willkommen im Offizierskorps des Kaisers, Leutnant Grünberg! Am kommenden Donnerstag erscheinen Sie hier bitte pünktlich um 7 Uhr zur Einkleidung! Wegtreten!“

Er ging die Werderstraße entlang und fühlte sich gut. Sie hatten ihn tatsächlich als Offizier angenommen, obwohl sie wussten, dass er Jude ist. Die Worte des Kaisers waren ganz offensichtlich nicht nur eine ‚Schönwetterrede‘ gewesen. Er hielt Ausschau nach einer freien Droschke, die ihn zur Villa seines Schwiegervaters bringen sollte. Dort war er mit Miriam und ihren Eltern zum Kaffee verabredet. Sicherlich würde seine Verlobte sehr stolz auf ihn sein und beim ‚Schwiegerpapa in spe‘, der erst vor kurzem vom Kaiser mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde, dürfte sein Ansehen weiter steigen. Er war nun Leutnant und in Friedenszeiten galt ein preußischer Leutnant als junger Gott. Das war zwar nicht der Grund, dass er sich beim kaiserlichen Heer dienstverpflichtet hatte, doch war ihm dieser Aspekt weder unbekannt noch unangenehm. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass ein junger Leutnant im Krieg bestenfalls Kanonenfutter ist, der seine kleine Einheit, zehn Schritte vorauseilend, in den Kampf zu führen hatte.

***

Miriam war außer sich. Als sie mit ihrem scharfen Verstand die Bedeutung von Daniels Entscheidung begriff, fixierte sie ihn mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. Als sie Augenbliche später wutschnaubend von der Kaffeetafel aufsprang, fiel ihr Stuhl polternd nach hinten um.

Das Stubenmädchen zuckte, neben dem Kamin stehend, zusammen und fast hätte sie das Tablett mit frischem Gebäck fallen lassen.

In höchster Erregung warf Miriam ihre handbestickte Damast-Serviette auf den Tisch, wobei eine Kaffeetasse umkippte und sich ein hässlicher brauner Fleck auf dem weißen Tafeltuch aus feinstem Leinen langsam mehr und mehr ausbreitete.

„Kikt aich un den groissen Schmock!“ schimpfte sie lauthals, während sie Daniel nicht aus den Augen ließ.

„Es reicht, Miriam!“ ermahnte sie ihr Vater Amon.

Mutter versuchte ihr spontanes Lachen über die Äußerung der Tochter hinter einer Serviette zu verstecken, denn ihr Kind hatte soeben gesagt: „Schaut euch den großen Schmock an“, wobei ein ‚Schmock‘ im Jiddischen alles Mögliche sein kann: Ein langsamer Denker, ein ungeschickter Mensch, jemand, der eitel und arrogant ist, oder ein Dödl. Mutter hatte wahrscheinlich zuerst an das männliche Geschlechtsteil, den ‚Dödl‘ gedacht, was ihre schamhaften Bemühungen erklärte, ihr Lachen zu verbergen.

„Zum einen sprechen wir in diesem Haus als Bürger des Deutschen Reiches nur Deutsch, und zum anderen ist Herr Doktor Grünberg Gast in diesem Haus. Auch wenn du seine Verlobte bist, erlaube ich derartige Entgleisungen nicht. Wenn Doktor Grünberg für uns alle gegen den Feind kämpfen will, verdient das unser aller Hochachtung und ist aller Ehren wert.“

Miriam blieb am Kamin stehen, während das Stubenmädchen den umgestürzten Stuhl aufhob und den Kaffeefleck unter einer sauberen Platzdecke verschwinden ließ. Sie atmete einige Male tief durch und ärgerte sich, dass sie sich so hatte gehen lassen. „Entschuldige, Vati, aber Herr Doktor Grünberg…“  – sie betonte seinen Titel ‚Doktor‘ besonders – „…hat seiner Verlobten soeben ganz nebenbei mitgeteilt, dass er in den Krieg zu ziehen gedenkt…“

„Kindchen, so beruhige dich doch“, sagte Mutti in sanftem Tonfall und mit mildem Lächeln.

Weder Daniels Argumentation, dass die Aufrufe der jüdischen Organisationen doch eindeutig seien, noch die zusätzlich zelebrierte Information, dass er, der Jude Daniel Jonathan Grünberg aus Freystadt, aufgrund seines akademischen Grades unmittelbar nach seiner Einkleidung zum Leutnant befördert würde, konnten seine heißblütige Verlobte beruhigen.

Miriam, über deren Gesicht inzwischen, von ihr unbemerkt, einige Tränen der Wut flossen, sah Daniel fest in die Augen. „Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir irgendwann über deine diesbezüglichen Pläne gesprochen haben! Verzeih, ich vergaß – ich bin ja nur eine Frau. Ich habe zwar auch, genau wie du, einen Doktortitel, aber ich bin halt nur eine Frau.“

Sie kam aufreizend langsam zum Tisch zurück und setzte sich wieder zu ihnen. „Als jüdischer Leutnant willst du also gegen den bösen Feind kämpfen!? Willst dich für den Kaiser zum Krüppel schießen lassen und falls sie dich dann tatsächlich irgendwann ohne Beine und mit einem Auge zu mir nachhause bringen, wird der Kaiser von deinem Mut höchst beeindruckt sein. Das wird dann bestimmt eine lustige Hochzeitsfeier.“ Die Endtäuschung in ihren Augen war für Daniel deutlich zu erkennen, als sie fortfuhr: „Hast du bei deiner Entscheidung eigentlich auch nur einen Augenblick an mich gedacht?!“

Gerade, als ihr Verlobter zu einer Antwort ansetzen wollte, fügte Miriam dem bisher Gesagten noch eine typisch jüdisch-sarkastische Bemerkung als Schlusspunkt hinzu: „Berühmt sollst du werden, Daniel Grünberg – eine Krankheit soll man nach dir benennen!“

Daniel war sichtlich betroffen. Natürlich hatte sie recht, das war ihm nun völlig klargeworden. Er hätte über seine Absicht, in die kaiserliche Armee einzutreten und für die Heimat zu kämpfen, mit ihr sprechen sollen. Schließlich war Miriam kein Backfisch, sondern eine intelligente Frau exzellenter Ausbildung. Mit ihr konnte er über zu allen erdenklichen Themen anregende Diskussionen führen. Gerade in diesem Augenblick, in dem sie sich über seinen einsamen Entschluss zum Militär zu gehen so ereiferte, ging von diesem zauberhaften Wesen, mit ihren langen schwarzen Haaren und den leicht slawisch wirkenden Gesichtszügen, dieses seltsame Feuer aus, dass ihn vom ersten Augenblick an unwiderstehlich anzog. Er sah sie einige Augenblicke nachdenklich an und sagte dann: „Du hast recht. Ech bin a groisser Schmock! Bitte verzeih mir. Es tut mir von Herzen leid, ich hätte das natürlich mit dir besprechen müssen. Bitte verzeih.“

Er blickte kurz zu ihrem Vater Amon hinüber, der ‚jiddisch‘ bekanntlich als, für einen jüdischen Bürger des Deutschen Reiches, inakzeptable Form der Verständigung betrachtete. Daniel bat ihn wortlos, mit einer entsprechenden Geste, um Entschuldigung für seine Wortwahl.

Miriam versuchte ernst zu bleiben, konnte allerdings das Lachen nicht zurückhalten, sodass es schließlich aus ihr herausplatzte: „Dann werde ich wohl von nun an jeden Tag den Ewigen bitten müssen, dass er meinen geliebten Schmock seine Torheit vergibt und ihn wieder heile zu mir zurückbringt.“

Ihre Eltern sahen sich zufrieden lächelnd an und Daniel jubelte innerlich. Sie hatte seine Bitte um Verzeihung offensichtlich angenommen.

„Vergiss bloß nicht, dass du mich heiraten willst“, fügte sie hinzu, während sie ihm ihre Hände über den Tisch entgegenstreckte.

***